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Gedenkansprache der Botschafterin Feldhusen aus Anlass des Internationalen Holocaust-Gedenktages und des Tags des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus
„Wir wollen der Opfer als individuelle Persönlichkeiten gedenken, als Menschen mit Träumen und Plänen für ihr Leben, die mit ihren Familien Teil der Gesellschaft waren. Es waren keine Fremden.“
Sehr geehrte Mitglieder der jüdischen Gemeinden und Organisationen,
Sehr geehrte Vertreter der Roma und Sinti,
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen des diplomatischen Corps,
liebe Gäste,
am gestrigen Tag, dem 27. Januar 2020, jährte sich zum 75. Mal die Befreiung des deutschen nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. In den Nachrichten gestern haben wir die bewegenden Bilder aus Ausschwitz gesehen und weltweit wurde der Opfer des Holocausts gedacht. In Deutschland ist dieser Tag ein gesetzlich verankerter Gedenktag für alle Opfer des Nationalsozialismus.
Aus diesem Anlass wollen auch wir innehalten und in dieser Stunde gemeinsam der Opfer gedenken. Im Gebet, das Rabbi Assmann für uns sprechen wird und in der wunderbaren Musik von im Nationalsozialismus verfemten Komponisten, dargebracht vom Pianisten Moritz Ernst. Der Komponist Ullmann, beispielsweise, wurde mit dem letzten Zug von Theresienstadt nach Auschwitz gebracht und dort am 18. Oktober 1944 vergast.
Dass ich zu diesem Anlass als Vertreterin der Bundesrepublik Deutschland in der Ukraine zu Ihnen sprechen und mit Ihnen gemeinsam der Opfer gedenken darf, berührt mich sehr. Und dass Sie mich in Ihrem Land, wo der nationalsozialistische Terror besonders schwer gewütet hat, auch dieses Mal wieder mit Wärme empfangen haben, macht mich dankbar.
Was soll man sagen angesichts von so viel Schuld, die mein Land auf sich geladen hat? Angesichts des millionenfachen Leids, das verursacht wurde? Es wäre zu leicht zu sagen, dass sich dafür keine Worte finden lassen. An die Verbrechen zu erinnern, die Täter zu nennen und den Opfern ein würdiges Gedenken zu bewahren – das ist eine Verantwortung, die nicht endet. Sie ist nicht verhandelbar und sie gehört untrennbar zu Deutschland.
Wir schulden es den Opfern, dass wir darüber sprechen, dass wir ihrer würdig erinnern und dass wir uns bewusst zu dieser besonderen Verantwortung bekennen.
Und wir schulden es unseren Kindern, den nachfolgenden Generationen, dass wir unsere Sprache über das Unrecht nicht verlieren. In ihrem Bewusstsein muss das Wissen um die menschenverachtende nationalsozialistische Diktatur und die Erinnerung an die konkreten menschlichen Schicksale der Opfer wachgehalten werden.
Aktuellen Studien zufolge ist bereits heute sichtbar, dass das Wissen junger Leute in Deutschland und Europa über die Verbrechen der Nationalsozialisten und den Holocaust schwindet. Auch die Erinnerung an die massenhafte Ermordung von Roma und Sinti, Homosexuellen, psychisch kranken und geistig behinderten Menschen oder jener, die aufgrund ihrer politischen und religiösen Überzeugungen von den Nationalsozialisten zu Feinden erklärt wurden, muss aktiv bewahrt, das Geschehene beleuchtet werden. Darin liegt eine wichtige Aufgabe für die Politik, für unsere Schulen und jeden Einzelnen von uns.
Besonderer Dank gebührt in diesem Zusammenhang den Überlebenden und allen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die ihre Erfahrungen mit den nachfolgenden Generationen teilen und damit ermöglichen, dass die Jugendlichen und jungen Erwachsenen ihre ganz persönlichen Lehren daraus ziehen können. Es ist ein großes Geschenk, dass Sie anderen Menschen Einblicke in die dunkelsten Kapitel Ihres Lebens gewähren, auch wenn dies oft schmerzhaft ist.
Dabei geht es gerade nicht um das bloße Erschrecken vor den Ausmaßen, der übergroßen Anzahl der Gequälten und Ermordeten. Wir wollen vielmehr den Einzelnen hinter dieser Zahl erkennen und der Opfer als individuelle Persönlichkeiten gedenken, als Menschen mit Träumen und Plänen für ihr Leben, die mit ihren Familien Teil der Gesellschaft waren. Es waren keine Fremden. Es waren Nachbarinnen und Nachbarn, Mitschülerinnen und Mitschüler, Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunde. Sie kamen aus der Mitte unserer Gesellschaften.
Die Brutalität der Ermordung von Juden in der Ukraine lässt sich kaum in Worte fassen. Hier geschah der Massenmord nicht technisiert und industriell organisiert. Die Bilder der Konzentrationslager und der Gaskammern sind vielen Menschen weltweit präsent. Der „Holocaust durch Kugeln“ in der Ukraine und weiteren Teilen Osteuropas erfuhr dagegen kaum öffentliche Aufmerksamkeit. Im Kugelhagel starben 1,5 Millionen Menschen. Das sind 1,5 Millionen Schicksale – und weit mehr, wenn man die Folgen für die Angehörigen und Nachkommen mit einbezieht – über die auch in Deutschland noch viel zu wenig bekannt ist.
Mit der Unterstützung der Initiative „Yahad – In Unum“ durch das Auswärtige Amt möchten wir dazu beitragen, dass sich das ändert. Schätzungsweise 2.000 Massenerschießungsstätten befinden sich allein auf dem Gebiet der heutigen Ukraine. In abgelegenen Schluchten und Wäldern, mitten auf Feldern, in ehemaligen Panzergräben oder Sandgruben wurden zwischen 1941 und 1944 ganze jüdische Gemeinden oft innerhalb weniger Tage ausgelöscht. Eine meiner ersten Dienstreisen ging nach Berdychiv gemeinsam mit dem israelischen Botschafter, wo sich mitten auf dem Feld ein Tal auftat und wo so viele erschossen wurden. Auch Roma, Kriegsgefangene oder Kranke wurden Opfer mobiler deutscher Mordkommandos. Hunderte Massengräber sind bis heute unmarkiert und ungeschützt, teilweise sind sie verwahrlost oder überbaut. Die Mitarbeiter von „Yahad - In Unum“ haben seit 2004 mit Hilfe von intensiven, vor Ort geführten Zeitzeugeninterviews über 1000 Massengräber und Massenerschießungsstätten markiert und dokumentiert. Die Ausstellung hier im Saal kann Ihnen einen kleinen Einblick in diese wichtige Arbeit vermitteln.
Viele Zeitzeugen stellen bei den Interviews übrigens folgende Frage: „Warum kommen Sie erst jetzt?“. Sie haben teilweise ein Leben lang darauf gewartet, ihre Erinnerungen an die traumatischen Erlebnisse zu schildern. Und sie möchten damit zur Bewahrung des Andenkens an ihre Mitbürger, Freunde, Nachbarn und Bekannten beitragen und zur Sicherung der Grabstätten für die Nachwelt beitragen.
Liebe Gäste,
75 Jahre nach dem Holocaust gibt es auch in Deutschland wieder aktive jüdische Gemeinden. Es ist ein großes Geschenk, dass Jüdinnen und Juden heute Deutschland wieder als ihre Heimat sehen. Es werden wieder Rabbinerinnen und Rabbiner ordiniert, jüdische Kindergärten und Bildungseinrichtungen gegründet, Synagogen wieder aufgebaut. Jüdisches Leben ist Teil unserer Kultur und unserer Identität. Die Vielfalt jüdischen Lebens zu fördern und schützen, ist unsere Verantwortung und unser Auftrag.
Wir begreifen diese besondere Verantwortung auch im deutlichen Eintreten gegen jede Form von Antisemitismus. Den Gespenstern der Vergangenheit kann man – und das ist beschämend – in meinem Land auch heute wieder begegnen. Das hat der furchtbare Anschlag auf die Synagoge in Halle deutlich gezeigt – und die Bundesrepublik im Herzen getroffen. Viele Umstände sind heute anders, aber das Böse ist dasselbe. Und wir dürfen nicht zulassen, dass es jemals wieder so stark werden kann.
Damit Humanität und Toleranz und nicht Ausgrenzung und Hass unser Zusammenleben bestimmen, müssen wir uns als Staat und Gesellschaft aktiv für die Bekämpfung von Vorurteilen und gefährlichen Stereotypen, Diskriminierung und Antisemitismus einsetzen – im eigenen Land und über unsere Grenzen hinaus.
Denn, wie Bundespräsident Steinmeier vergangene Woche in Israel gesagt hat: „Die Flamme von Yad Vashem erlischt nicht. Und unsere deutsche Verantwortung vergeht nicht. Ihr wollen wir gerecht werden. An ihr sollt Ihr uns messen.“
Ich verneige mich vor den Opfern, vor ihren Angehörigen und ihren Nachkommen.
Hintergrund:
6 Millionen. Angesichts der unfassbaren Zahl der Opfer des Holocaust und unzählige weitere Opfer des Nationalsozialismus die Erinnerung an den einzelnen wachhalten – zu diesem Ziel sollte die Gedenkveranstaltung in der Deutschen Botschaft Kiew am 28.1.2020 aus Anlass des Internationalen Holocaust-Gedenktages sowie des Tages des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus beitragen. Der Pianist und Cembalist Moritz Ernst spielte Werke im Nationalsozialismus verfemter Künstler; zwei kleine Ausstellungen präsentierten die Arbeit von „Yahad - In Unum“ und Werke des Fotografen Christian Herrmann zu den Spuren jüdischen Lebens in Osteuropa.
#WeRemember
Gedenkansprache der Botschafterin Feldhusen aus Anlass des Internationalen Holocaust-Gedenktages und des Tags des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus







